Lesungen Repertoire

„Alle Bilder werden verschwinden“

Über Annie Ernaux  und ihr Werk – Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2022

Annie Ernaux (geb. 1940) gehört zu den meistgelesenen Autorinnen Frankreichs. Seit den 70er Jahren  schrieb sie 20 Bücher, die alle eine ganz besondere Art Erinnerungsarbeit behandeln. Sie nennt sich „Ethnologin ihrer Selbst“, ihr dargestelltes Erinnern geht aber weit über die private Autobiographie hinaus.

Sie verdichtetet Persönliches zu einer Kollektivbiographie, zu einem Dokument der Jahrzehnte, die sie durchschritten hat. Welche Ereignisse bestimmten die Zeit, welche Mode, Politik, Musik, Konsumartikel, welche Skandale fanden statt, welchen Rollenbildern wurde gefolgt, wo stand die französische Gesellschaft in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, wo nach 2000 etc.? Wer war sie selbst in diesen Jahren? Annie Ernaux schafft es, in ihrem Hauptwerk „Die Jahre“ (2008) ein großes Zeitpanorama zu entwerfen, ein soziologisches Porträt, das ohne erzählerisches Ich auskommt. Sie begründet damit einen neuen Erzählstil der Autobiographie. In direkter, präziser Sprache spürt sie den Zerreißproben des Lebens nach.

Der Vortrag bezieht in kurzen Literaturauszügen die Werke „Der Platz“, „Erinnerung eines Mädchens“, „Das Ereignis“, „Die Jahre“, „Eine Frau“ und „Der junge Mann“ ein.

Annie Ernaux gelingt es, ihre Leser auf eine spannende Zeitreise mitzunehmen, die durch die Privatheit des Erlebten gleichzeitig einen tiefen Blick in die französische Gesellschaft gewährt.

Dauer: 50 min.   Mit Musik: 1:15 min.

Jedes Wort ein Flügelschlag

Eine Lesung zum Werk Hanns Cibulkas
Zum Andenken an seinen 100. Geburtstag 2020

Hanns Cibulka (1920-2004) gehört zu den wichtigen deutschen Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts.

Sein großes Werk umfasst Lyrik, Erzählungen und Tagebuchprosa.

Ursprünglich aus einem mährisch-schlesischen Dorf stammend, lässt er sich nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges in Gotha nieder.

Er beginnt mit Lyrik und entwickelt seinen eigenen Stil, der eine große Intensität in den Bildern aufweist und sprachlich sehr konzentriert ist.

In der Tagebuchprosa verarbeitet er Heimatverlust und traumatische Kriegserfahrungen. Die erlebten Landschaften in Mähren, Italien und der Ostsee begleiten das künstlerische Werk durch sein Leben hindurch. Lyrische Passagen und eine hohe Verdichtungskraft kennzeichnen die Tagebücher.

Thüringen und seine Landschaft werden ihm zur zweiten Heimat. In seinen Texten widmet er sich ihrer Schönheit und Zerbrechlichkeit. Zugleich geht er den großen Fragen seiner Zeit nach, mit denen sich der Einzelne auseinandersetzen muss.  Mutig benennt er die gewaltsame Zerstörung der Natur durch den Menschen.

Cibulka gehört zu den viel gelesenen Autoren der DDR und empfing nationale und internationale Literaturpreise für sein Schaffen.

Für die Lesung wurde anhand seiner biographischen Stationen Lyrik und Prosa ausgewählt.

Sein 100. Geburtstag konnte im Pandemiejahr 2020 nicht ausreichend öffentlich gewürdigt werden. Diese Lesung möchte sein Schaffen in Erinnerung bringen und würdigen.

Käthe Kollwitz
Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken

Käthe Kollwitz (1867-1945) gilt heute als eine Künstlerin mit internationaler Strahlkraft. Man schätzt ihr Werk in den großen Kunstsammlungen der Welt. Deutschland besitzt zwei eigens für sie gegründete Museen in Köln und Berlin.

Wer war die Frau Käthe Kollwitz? Wer war die Künstlerin, die die großen menschlichen Themen in ihrem Werk eindringlich darstellte: Mutterliebe, Not, Empörung, Krieg, Tod, Abschied, Freude und Glück. In ihren Tagebüchern und Briefen betrachtet sie sich, die Familie und ihr wechselvolles Schicksal, beschreibt mit einem wunderbaren Sprachgefühl die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Es war ihr neben dem Maltalent geschenkt.

Die sehr erfolgreiche Doppelausstellung im Kunsthaus Apolda Avantgarde „Ernst Barlach Käthe Kollwitz: Über die Grenzen der Existenz“, die am 18.04.2022 endete, brachte das Werk dieser beiden seelenverwandten Künstler der interessierten Öffentlichkeit wieder näher und zeigte die bestechende Aktualität ihrer Kunst. Bedrohungen, die von Kriegen ausgehen, Ängste, Verzweiflung, Depression, denen der Einzelne in unsicheren Zeiten ausgesetzt ist, vor diesen Themen fürchtet sich Käthe Kollwitz nicht. Sie setzt sie ins Zentrum ihrer Darstellung. Die Schau würdigte eindrucksvoll die unvergängliche und über die Zeit hinweg reichende Ausdruckskraft der Kompositionen. Einen besonderen Stellenwert nehmen die Selbstporträts in Kollwitz‘ Schaffen ein.

Den Erschütterungen der äußerst schwierigen Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts trat sie mit großem Mut und Engagement in ihrer individuellen künstlerischen Bildsprache entgegen.

Ihre Werke wurden bereits als junge Frau ausgestellt. Sie empfing Ehrungen und erreichte einen für eine Künstlerin in dieser Zeit ungewöhnlich hohen Bekanntheitsgrad. Es gelang ihr sogar, in den männlich dominierten Gremien der Berliner Secession mitzuwirken. Die beiden Weltkriege waren voll von schweren Schicksalsschlägen für sie, ihre Familie, Freunde und Verwandte. Konsequent sieht Kollwitz ihre künstlerische Aufgabe in der harten inneren Auseinandersetzung mit ihr vom Leben auferlegten Themen und einem Ringen um Gestaltung in Bild und Skulptur. Dem tiefen menschlichen Mitgefühl, dessen die Künstlerin fähig war, kann sich bis heute kein Betrachter entziehen.

Der Ausdruck ihrer Humanität wirkt über die Zeiten und Grenzen hinweg und schafft eine allgemeingültige Charakteristik unseres Menschseins.

Eine Einladung zum Vortrag von Iris Kerstin Geisler über ihr Leben und Werk mit Lesung ausgewählter Passagen aus Tagebüchern und Briefen. Eine Kunstbetrachtung einiger Arbeiten wird ebenso wie Gespräch und Moderation angeboten.

Dauer: 1:15 h

„Mondschnee liegt auf den Wiesen“
Eva Strittmatter

Eva Strittmatter gehört zu den wichtigen Dichterinnen der DDR. In ihrem Werk spürt sie dem Menschen nach, seiner Existenz in der Gesellschaft, seinem Handeln, seinen Beziehungen. Im Rückzug in die Natur, in ihrem Eintauchen ins Wechselspiel der Jahreszeiten, findet sie Stille und Einsamkeit. Der Schulzenhof in der Mark Brandenburg wird ihr Lebensraum. Im künstlerischen Schaffensprozess verdichtet sie Wahrnehmungen, die sie einzigartig in Sprache umwandelt. Strittmatter Dichtung ist verständlich, sie bekennt im Gedicht „Vom Schreiben“: Ich will aber einfach bleiben/ und nah am alltäglichen Wort/ und will so deutlich schreiben/ dass die Leute an meinem Ort/ meine Gedichte lesen/ und meine Gedichte verstehen/ und sagen: so ist es gewesen/ und das haben wir auch schon gesehen.

Eva Strittmatter stellt sich in ihrem Werk mutig den großen Themen des Lebens, der Liebe, dem Tod, der Schönheit, der Vergangenheit, dem Erinnern, der Bedrohung unserer Existenz, der Heimat, den Verlusten, dem Gegenwärtigen wie auch der ungewissen Zukunft. Ihre Gedichte haben bis heute nichts von ihrer Wahrheit, ihrer großen Kraft und geheimnisvollen Magie verloren. Die Lesung möchte an die deutsche Dichterin Eva Strittmatter erinnern, ihr Werk im öffentlichen Raum lebendig halten und zum Jubiläum ehren.